LAVINIAS SCHATTEN

Frankfurter Allgemeneine Zeitung, 11.6.1995

Alles Erzählen ist unzulänglich
"Lavinias Schatten" von Jörg Laue im Theaterhaus

Die beiden gotischen Königssöhne zauderten nicht: Nachdem sie Lavinia, die Tochter des römischen Feldherren Titus Andronicus vergewaltigt hatten, schnitten sie ihr Hände und Zunge ab, um sie für alle Zeit zum Verstummen zu bringen. Die Inszenierung "Lavinias Schatten" von Jörg Laue, die im Theaterhaus Schützenstraße gezeigt wurde, will das Scheitern, die Unmöglichkeit des Erzählens sichtbar und hörbar machen. Das Schicksal Lavinias, das Shakespeare in seinem Drama "Titus Andronicus" beschreibt und auf Ovids Philomele-Mythos bezieht, dient dem Frankfurter Künstler als Exempel für eine große These: Alles Erzählen ist unzulänglich. Auf der Bühne verbirgt eine Wand aus hängenden Kupferdrahtseilen zwei Sprecherinnen, die gegen übereinandergeschnittene Stimmen ansprechen. Der Text bleibt, bis auf Fetzen, unverständlich. Dissonante Geigentöne schneiden ihn ab, während auf die Wand skelettartige Bäume und strömendes Wasser projiziert werden. Mehr geschieht nicht.
Dreimal verstummt der wirre Chor aus drei vokalen Cluster-Kompositionen, dann ist endgültig Ruhe. Aber ist damit auch Laues These belegt? Der Autor gibt sich keine Mühe, seine "Installation, Klangskulptur, Performance" mit Sinn zu füllen. Er stellt schöne, meditative Bilder einem sinnlosen, anschwellenden und versiegenden Sprachgewirr gegenüber. Was er kreiert, ist eine esoterische Folterkammer. Das beredte Schweigen ist qualvoll und doch nur exzentrische Spielerei mit der Tontechnik. Die Pein der Lavinia überträgt sich auf den Zuschauer. Wo es nichts zu erzählen gibt, da sollte man lautlos schweigen.

umo