GREEN LINE
Theater der Zeit, 02/22
Über Grenzen
„GREEN LINE“ der LOSE COMBO in den Berliner Uferstudios
Diagonal durch das Heizhaus der Berliner Uferstudios ist eine Mauer aus Schichten grüngrauer Steinwolle aufgebaut. Genau genommen besteht sie aus zwei ineinander geschobenen L-Formen, zwischen denen sich ein Zwischenraum auftut – eine begehbare Grenze, deren inneren und äußeren Räume die Erfahrung der jüngsten Produktion der LOSE COMBO bestimmen.
„GREEN LINE“ führt das Publikum mit einem sensiblen und komplexen Gefüge von Klang-, Bild- und Texträumen durch Geschichte(n) von Grenzziehungen. Titelgebend ist die UN-Pufferzone Zyperns, welche die Insel seit 1974 in einen türkischen Teil im Norden und einen griechischen Teil im Süden trennt: Ein Niemandsland, das einst durch die grüne Linie auf einer militärischen Karte eingetragen wurde und das während der Performance auf vielfältige Weise erfahrbar wird.
Zu hören sind Texte, vorgetragen von Claudia Splitt und Florian Feigl, zur Entstehung der ‚grünen Linie‘, deren Verlauf an einer auf eine weiße Leinwand projizierten Karte Zyperns nachzuvollziehen ist. Es geht um historische, geologische und etymologische Aushandlungsprozesse, um Abweichungen von Angaben und Verschiebungen von Begriffen und Räumen. Die kartografische Auf- und Einzeichnung der Linie wird als politische Handlung, als Akt der Grenzziehung sicht- und lesbar, begleitet von den sie umlagernden Begriffen, die Jörg Laue, Autor der Texte und der LOSE COMBO, mit seinem gleichsam archäologischen Interesse an den Bedeutungsfeldern der Sprache für uns erschließt.
So erfahren wir von der unbestimmten Herkunft des Namens Zypern, nach dem das dort vorhandene Kupfer benannt wurde, von den zyprischen Kupferminen, von der Bedeutung von „Mine“, die auf das Mineralgestein selbst zurückzuführen ist und neben Sprengsätzen auch für die Einlage von Schreibgeräten Verwendung findet. „Mine“ ist aber auch im Termin enthalten – etymologisch ebenfalls eine Grenzlinie, ein Endpunkt.
Nicht weit davon klingt der Begriff des Theremins, einem elektronischen Musikinstrument, das nach dem russischen Physiker und Cellisten Lew Termen benannt wurde, der es 1920, nach dem Ersten Weltkrieg, auf der Suche nach einem Minendetektor eher zufällig erfand. (Termen nannte sich in den USA Leon Theremin.) Seine hellen, schwingenden Töne durchziehen den Klangraum, der die weit gesponnene Textur der Bedeutungen sowohl trägt als auch auf angenehme Weise immer wieder abdriften lässt. Die Musikerinnen des Duos To- car, die Pianistin Nadeszda Tseluykina und die Violinistin Susanne Zapf, gestalten auf Grundlage kartografischer Partituren eine Landschaft aus akustischen und elektronischen Klängen. Der im Raum aufgestellte geöffnete Flügel wird dabei selbst zu einer Zone möglicher Grenzgänge, in dem die Musikerinnen die Saiten durchqueren, sie traktieren, mit ihren Schwingungen und Spannungen experimentieren. Begibt man sich in den Zwischenraum der im Raum aufgeschichteten Mauer, so wird es stiller, sie dämpft das anhaltende Tönen der Klänge und Deuten der Begriffe. Das schallabsorbierende Material – man darf es eigentlich nicht berühren – ist weich und massig und bildet so selbst eine Art Pufferzone. Die Grenze als Schutzraum. Die Grenze als Durch- und Übergang. Außen, auf einem der bereitgestellten Sitzsäcke Platz nehmend, sind Videoprojektionen von Landschaften, von Geästen und Bäumen, von Wolkenformationen und kartografischen Liniaturen zu sehen, die über die mauerartige Struktur mäandern. Die Bewegung der Bilder ist kaum auszumachen und bietet einen angenehmen Halt in dem unentwegten Fortgang von Text und Klang. Mit ihr beginnt auch die Wahrnehmung zu wandern, ohne Halt, ohne Hast, aber mit stetig wachsender Aufmerksamkeit. Und mit einem Mal wird alles grün, ist der gesamte Raum – der Raum im Inneren der Pufferzone eingeschlossen – wie in das Licht militärischer Nachtsichtgeräte getaucht. Das Publikum wandert nun gleichsam selbst durch eine grüne Zone. Ein Grenzgang, bei dem jeder auf seine eigene Wahrnehmung verwiesen ist, denn als es wieder dunkler wird, sehe ich alles rosa – eine Ermüdungserscheinung der Augen, die, wie ich mir später erklären lasse, ein negatives Nachbild in der Komplementärfarbe erzeugen. Nach und nach neutralisieren sich die Farben und beginnt mein Blick über das roh belassene Mauerwerk des Heizhauses der Uferstudios zu schweifen. Es ist selbst von Geschichte gezeichnet – Schichten von Putz- und Farbresten, Spuren von Wasserschäden und Wegweisern. Mit der Gegenwart der Geschichte des Raums wird mit den Texten zum Ende des Abends auch die Gegenwart der Geschichte Berlins und ihrer Mauer aufgerufen, deren Fragmente sich über die Metropolen der Welt verteilt haben. Die ursprünglich geplante Reise der LOSE COMBO nach Zypern konnte pandemiebedingt nicht stattfinden. Stattdessen ist die Inszenierung selbst eine Art virtuelle Reise, wie wir sie in der letzten Zeit so oft als eine Folge von Begrenzungen erlebt haben. Das kann Theater. Das kann aber vor allem das Theater der LOSE COMBO, das seit mittlerweile 25 Jahren eine ganz eigene Form der Inszenierung generiert, in dem sich Bilder und Objekte, Texte und Klänge zu einem vielschichtigen Zeit-Raum verbinden, auf den einzulassen sich lohnt.
Isa Wortelkamp