GREEN LINE

taz.de, 18.11.2021

Die Partitur der Grenze
Worauf beruhen Grenzen? Wie Politik und Zufall zusammenspielen, erkundet die Performance „Green Line“ am Beispiel Zyperns in den Uferstudios Berlin.

Manchmal spielen Buntstifte Schicksal. Die Teilung Zyperns jedenfalls geht auf einen grünen Buntstift eines britischen Militärs zurück, der in der Nacht vor Silvester 1963 in einem Verhandlungsmarathon auf einer Karte der Haupstadt Nikosia eben diesen Strich zog. Das Ganze geschah in Anwesenheit des Churchill-Schwiegersohns Duncan Sandys, der war damals Minister für koloniale Angelegenheiten des auseinanderfallenden Empires.
Die Grenze erkundet Jörg Laue in der Performance „Green Line“ in den Uferstudios. Er erzählt die Geschichte präzise, ungemein detailverliebt und mit einer Ruhe, die dem Atem der Geschichte auch angemessen ist. Den größten Raum des Heizhauses in den Uferstudios lässt er durch eine graue Wand durchschneiden. Sie ist aus Steinwolle gebaut, einem grau-schwarzen Material, das zu ziegelähnlichen Quadern geformt ist und Schicht um Schicht in die Höhe wächst.
Die Mauer ist innen hohl. Das ist ein schöner raumakustischer Trick. Man kann sich in den Hohlraum stellen. Die Stimmen der Performenden und die Klänge der Musik werden dumpfer, muten wie aus großer Ferne kommend an.

Diese räumliche Ausdehnung der Linie spiegelt den Charakter der echten „Green Line“, zuweilen auch „Attila Line“ genannt, gut wider. Denn eigentlich handelt es sich nicht um eine Linie, sondern eine Pufferzone, die den griechischen Teil der Insel vom türkischen Teil separiert. Diese Pufferzone hat eine räumliche Dimension, mit Häusern, die seit fast 50 Jahren nicht mehr bewohnt, Geschäften, die nicht mehr besucht, und Bäumen und Sträuchern, die ungestört und unbeschnitten – außer sie stören den UN-Patrouillenverkehr – wachsen können.
Worte über die Entstehung der Linie tröpfeln ins Bewusstsein, vorgetragen von den ruhigen Stimmen Claudia Splitts und Florian Feigls. Das Duo Tocar – Susanne Zapf und Nadezda Tseluykina – produziert die passenden Töne. Sie spielen dabei nicht nach herkömmlichen Noten, sondern nach Kartensegmenten, die Umrisse der Insel, der Grenze und auch Umrisse von Bergwerken zeigen.

Die Musikerinnen nutzen die Karten als grafische Charts, spielen sie mal von links nach rechts, mal von oben nach unten, mal auch segmentweise ab. Das Klavier ist dabei seiner äußeren Hülle entkleidet. Tseluykina greift in die offen liegenden Saiten. Sie zupft sie, sie streicht sie mit kleinen Besen, traktiert sie mit Fingerspitzen, die mit metallenen Hüten versehen sind.
Zuweilen gesellt sich Zapf ihr zu, legt die Violine beiseite und lässt Bälle auf die Saiten fallen. So entsteht ein Klangraum aus eher sparsamen Tönen – ein zwar geformter, zugleich aber auch dem Zufall unterworfener Raum. Musikalisch gesehen ein Cage-Raum also.

Die Grenzlinien der Bergwerke machen ein neues Thema auf. Zypern war im Altertum Quelle des Kupfers. Dieses Metall hieß auf lateinisch „Erz aus Zypern“. Bronze, eine Verarbeitungsform des Kupfers, gab einer ganzen Menschheitsepoche den Namen. Zypern hatte für die antike Weltwirtschaft vermutlich eine Bedeutung, die der der Öl-Emirate für die heutige Weltwirtschaft ähnelt.
Natürlich stimuliert diese Namensgeschichte Zyperns den belesenen Rechercheur Laue, in die Tiefen der Etymologie hinabzusteigen. Er prüft Lehn- und Wanderwörter auf Herkunfts- und Verbreitungsgebiete. Zur tiefen zeitlichen Dimension, vom geteilten Zypern von heute zurück zur Erzschatzinsel der Bronzezeit, kommen Ausbreitungsrichtungen auf dem Globus.
Auch auf den antiken Philosophen Anaximander geht Laue ein. Der ist nicht nur der Grieche, auf den das älteste überlieferte antike griechische Prosafragment zurückgeht. Anaximander malte auch eine Weltkarte, mit dem Mittelmeer in der Mitte. Und nach ihm sind ein Mondkrater und ein unterseeischer Gebirgszug im Mittelmeer zwischen der Türkei und, na klar, Zypern, benannt.
Während all dieser sprachlichen und klanglichen Erkundungen verwandelt sich auch der Raum. Erst war er in grünes Licht getaucht, mit Projektionen von grünen Landschaftsbildern auf der Mauer. Es handelte sich dabei nicht um das Grün der Natur, sondern um das militärische Grün der Nachtsichtgeräte und Radarschirme.
Später wurden die Projektionen zu Schwarzbildern mit hellen Punkten und Linien. Mal handelte es sich um Karten, mal mochte man sich unter dem Himmelsgestirn fühlen, mal auch in Höhlen, an deren Wänden rätselhafte Zeichen in Leuchtschrift standen. „Green Line“ wurde zu einem inneren wie äußeren Erkenntnisraum. Schade nur, dass diese bespielte Installation nur fünf Tage, bis zum Sonntag, erlebbar ist.

Tom Mustroph