FOUR John Cage

Positionen (Heft 55), 05/2003

LOSE COMBO

Als der Zuschauer den Saal des Berliner Podewil betrat, fiel sein Blick auf einige mannshohe Blöcke aus aufgetürmten schmutzig-grünen Steinwollmatten, die zu einem kleinen Labyrinth angeordnet waren. Im Schwarz des Theaterraumes eröffneten sie, T- oder doppel-/L-förmig, von seinen beiden Schmal- und der Längsseite her, wo die Zuschauerplätze einreihig entlang den Wänden angeordnet waren, nur begrenzte Einblicke in die jeweils gegenüberliegende Raumhälfte. Der Abend, zu dem das Publikum im Dezember 2002 aus dem Dunkel zusammengeströmt war, hieß FOUR John Cage – Performance : Konzert : Odyssee. Damit trug er den Gestus einer nicht zielgerichteten Suche gleich zweifach im Titel. Wie in allen früheren Arbeiten Jörg Laues und der LOSE COMBO, ist auch in FOUR John Cage der Raum durchdrungen und durchklungen von Geschichte(n); die auf besagte Blöcke aus zwei verschiedenen Winkeln des Raumes projizierten Videobilder und die eingespielten Tonbandaufnahmen wie auch die übrige Klanggestaltung verweisen jedoch nur auf diese, sie erzählen sie nicht.
Wie in den Arbeiten zuvor werden auch hier Zusammenhänge vielfältig, Bedeutungen unklar gelassen. Thematisch werden somit eher die Lücken, Leerstellen und Überlagerungen in der eigenen/kulturellen Erinnerung, die Aporien des Erzählens von Geschichte(n), als diese Geschichte(n) selbst. Ähnlich der begrenzten Übersicht über die räumliche Installation, wird dem Zuschauer keine panoramatische Aufsicht auf Geschichte(n), kein Überblick mehr möglich, sondern lediglich partielle Ein-Sichten, Aus-Blicke, wie sie Michel de Certeau in seinem Essay Gehen in der Stadt als welterfassende Perspektiven gerade den ziellos Umherstreifenden zugemessen hat.
Durch das ständige Ineinander von Textfragmenten, die an die Lektüre der alten Geschichte aus mythischer Vorzeit erinnern, und Videobildern bzw. Texten vom gegenwärtigen Herumirren in der Großstadt, wird auf der Ebene der Wahrnehmung des Zuschauers die gängige kulturelle Konstruktion von Zeit zerschlagen. Geht man mit Henri Bergson vom Gegensatz von temps und durée aus, ermöglicht die Performance dem Zuschauer eine Erfahrung von Dauer: In ihrem Verlauf gleitet die auf Zeit als uniforme Linie gerichtete Wahrnehmung nach und nach unwillkürlich hinüber zur Wahrnehmung einer anderen Zeitlichkeit. In dieser liegt unzweifelhaft das eigentliche Secretum der Kunst der LOSE COMBO begründet, von hier aus läßt sich auch mit zwingender Evidenz ihr künstlerisches Konzept eines multimedialen Musiktheaters herleiten. Denn die Zeitlichkeit ihres zwischen den üblichen Zeitpolen permanent hin- und herspringenden, gängige Zeitvorstellungen sukzessive aufhebenden Erzählens kann einzig in Musik ihre Vollendung finden. Und so wie Dauer in der Musik erfahrbar gemacht werden kann durch musikalisch artikulierte Zeit in Form von langsamen und gedehnten Tönen, aber auch von Vorhalten und Pausen, basiert die musikalische Gestaltung der Performances der LOSE COMBO auf einem permanenten Klanggeflecht aus Dröhnen, Rauschen, gesampelten Geräuschen, undeutlichen Radiostimmen, also: artifiziellen elektronischen oder radiophonen Klängen. Diese sind verwoben in indifferenten oder konturierten, scheinbar endlosen Klangflächen; sie grundieren und markieren zugleich die vielen Pausen bzw. Phasen der Stille, die sich wie Inseln der Dauer in simultan aufgeführte Instrumentalmusik einsenken.
In FOUR John Cage waren in den verschiedenen Innen- und Zwischenräumen, welche die Blöcke des Labyrinths miteinander formten, Orchesterpulte für Musiker (zwei Violinen: Corinna Guthmann und Christine Krapp, eine Viola: Eva Oppl, ein Violoncello: Patrick Sepec) aufgestellt. Sie spielten zunächst – leicht versenkt in einem Carrée – gemeinsam das Adagio aus Joseph Haydns Streichquartett B-Dur, um sodann – in vier verschiedenen Winkeln des Arrangements separiert – John Cages Komposition Four erklingen zu lassen. Deren Arbeitsprinzip der Vereinzelung der Stimmen fand ihr ästhetisches Pendant in der Form einer voneinander unabhängigen und äquivalenten Organisation aller in der Performance verwendeten Materialien inklusive des beschriebenen räumlichen Arrangements.
In der Tat sind es Strukturen wie etwa die flexiblen Zeitklammern der vier Stimmen von Four, welche die Matrix bilden, nach der Text, Video-Projektionen, Klänge, Körper und Licht aller Performances der LOSE COMBO komponiert werden. Seit neun Jahren arbeitet die Gruppe, die aus Absolventen des Giessener Studiengangs für Angewandte Theaterwissenschaft der Ära Andrzej Wirth hervorgegangen ist, in unterschiedlichen Formationen an Performance- und Installationsprojekten. Seit 1995 befindet sich ihr Arbeitsschwerpunkt in Berlin, wo die szenische Arbeit unter der Leitung von Jörg Laue und der Einbeziehung von Musikern und Performern in kleineren Besetzungen stattfindet. Hierbei weist die Selbstkennzeichnung »multimediales Musiktheater« auf den Versuch, Medien, Musik und Theater jenseits ihrer traditionellen Hierarchisierung einzusetzen. Text, Projektion, Klang und Licht werden anhand einer gemeinsamen Verlaufspartitur organisiert, die auf Zahlenproportionen oder auch auf den Strukturen einer klassischen Komposition wie etwa einer Bach-Fuge beruhen können. Das verbindende Element ist dabei die Erfahrung von Dauer im Sinne eines gestalteten bzw. erlebten Zeit-Vergehens: Klänge und Abläufe verändern sich über lange Strecken nur minimal; Videoprojektionen zeigen zumeist extrem verlangsamte Aufnahmen oder Einzelbilder in einem langsamen, gleichförmigen Puls, welche in den Performances zu Licht-Quellen in einem einfachen und radikalen Sinn werden: Die verschwommenen, unscharfen oder verwischten Motive fallen auf dunklen Stoff, Blei, Kupfer oder auch auf halbtransparente Materialien wie Papier, Plastikfolie und Glasfaserflies. Die Projektionsflächen teilen den Bühnenraum großflächig und verschließen ihn zuweilen vollständig. Das »Live-Moment« der Bewegungen, des instrumentalen Spiels und des Sprechens kann nur in Abhängigkeit von den Lichtbewegungen der elektronischen Bilder wahrgenommen werden und bleibt zuweilen auch vollständig verborgen. Die Neutralität der Verlaufspartitur erlaubt, zusammen mit der Möglichkeit der elektronischen Distribution im Raum, eine Einbeziehung der bereits beschriebenen, unterschiedlichen akustischen Materialien, die als gleichberechtigte Elemente behandelt werden (Klangregie: Hans-Friedrich Bormann). Die unterschiedlichen Schichten des entstehenden Geflechts rufen unterschiedliche Zeiterfahrungen auf. Im night-shot-Verfahren aufgenommene, taumelnde Videobilder von hastenden, unkenntlichen Menschen, Plattenbauten, rauchenden Schornsteinen, leeren U-Bahnhöfen, entsprechende Geräuschspuren, undeutliche Radiostimmen, Sätze vom Glücksgefühl im Stolpern des gleichgewichtsverlustigen Odysseus (Performance: Nicolai Reher), Geigenhälse in Lichtblitzen, stehende, zart intonierte, hohe, spitze Klänge in großen Zeitintervallen, pulsierendes, flugzeugpropellerartiges, leises Dröhnen, die sphinxenhaft großen Augen einer jungen Frau im dunklen Badeanzug in Videoprojektion, die mit sanftem Zischen zwischen den Zähnen artikulierten, von ihrer Stimme? leise gesungenen Strophen der Capri-Fischer (Performance: Claudia Splitt), die Zeit, die vergeht, stehenbleibt, das Geräusch des abrupten Abbruchs am Ende – all dies sind Erinnerungsmomente an ein Performance-Konzert, in dem die einzelnen Instrumente nicht allein dem musikalischen Bereich zuzurechnen sind. Es integriert vielmehr Materialien aus den unterschiedlichsten Künsten und Medien auf der Basis einer gemeinsamen formalen Strukturierung in der hörbaren Zeit, anstatt auf der des semantische Kohärenz stiftenden Blicks. Dieser arbeitet sich in einer Art archäologischen Suche? vergeblich ab an den an antike Ruinen? Kriegs-/Trümmer? erinnernden Mauer-Blöcken: »a music so to speak earthquake proof« – hatte Cage seine Komposition Four genannt.

Friedemann Keuder