time/zones

junge welt, 31.8.2012

Durch die Sterne stromern
Kreise, Punkte, Zeitzonen – in Berlin wird John Cage performt

Eine Art Wunderkammer ist in die Akademie der Künste eingebaut. Gebogene Wände aus halbtransparenter Wellplastik teilen die Halle 3 des Baus am Berliner Hanseatenweg in geschwungene Kabinette. Sie sind mit Kissen und Sofas ausgestattet. Auf die Wände werden Videos von der Künstlergruppe Lose Combo projiziert, die durch den gewellten Untergrund eine Unschärfe gewinnen, die geheimnisvoll wirkt. Doch es lassen sich einige thematische Stränge erkennen. Sportliche zum Beispiel. Bilder von Cassius Clay aus dem Boxfinale von Rom 1960 flackern auf. Sequenzen von der Geiselnahme bei den Olympischen Spielen in München zwölf Jahre später folgen. Desweiteren spielen die Beatles. Und man sieht auf alten Schwarzweißfilmen Soldaten in einer Kolonne Taxis fahren.

Das disparate Material hat eine Gemeinsamkeit, wie sich in den von der Schauspielerin Claudia Splitt mit samtener Stimme eingesprochenen Texte herausstellt. Die Ereignisse fanden alle an einem 5. September statt – dem Geburtstag des Komponisten John Cage. Dessen 100. Geburtstag wird in diesem Jahr ja auf 365 Tage ausgedehnt – was dem Zahlenspieler Cage sicherlich ein Lächeln entlockt hätte.

Der Zeitstrahl des 5. September, den der Berliner Performancekünstler Jörg Laue nun durch 100 Jahre wandern läßt, stellt nicht nur den Fronttaxi­transport in Paris (1914), das Einspielen des Beatles-Songs »While My Guitar Gently Weeps« (1968) und eine absurd motivierte Währungsreform in Burma (1987) nebeneinander. Das Unterfangen folgt auch in weiterem Sinne einer Spielidee von Cage selbst, die er in »Variations IV« festgelegt hat. Kreise und Punkte solle man laut diesem Stück auf den Grundriß des Aufführungsortes werfen, diese miteinander verbinden und an den Verbindungslinien Aktionen vornehmen.

Für Laue umfaßt der Aufführungsort die gesamte Erde. Er warf die Kreise und Punkte auf eine Weltkarte. Aus den Zeitzonen, die von Linien berührt wurden, sammelte er Geschichten über Ereignisse an einem 5. September für die freie Assoziation des Betrachters in loungeartiger Atmosphäre, außerdem bindet er Arbeiten von Künstlern ein, die in den Zeitzonen leben.

Ein Herzstück der achtstündigen Performance sind zwei Aufführungen von Cages Komposition »Atlas eclipticalis«, die ebenfalls den Raum zum Thema haben. Die Notation orientiert sich nämlich an einer selbst von der Astronomen-Community als wunderschön gefeierten Sternkarte des tschechischen Astronomen Antonin Becvar und wird vom Kammerensemble Neue Musik in zwei Variationen zu Gehör gebracht. Cage leitete aus den Sternkonstellationen zunächst die Plazierung einzelner Instrumentalstimmen in der Partitur ab und setzte in einem zweiten Schritt über diese Sternpunkte ein Notenraster. Er bestimmte Tonhöhe und Dauer, ließ den Musikern aber auch die Freiheit, einzelne Töne auszulassen. »Das birgt die permanente Überraschung in sich, denn ich weiß ja nicht, was meine Kollegen heute spielen. Die Aufführung wird daher wie ein Blick auf den Sternenhimmel, von dem man zur wolkenlosen Nachtzeit bei Neumond ganz viel sieht, bei Nebel, Wolken und anderem Licht aber weniger«, beschreibt der Baßklarinettist Theo Nabicht, der sehr tief in dieses Cagesche Aufzeichnungssystem eingetaucht ist, die Faszination, die von diesen Stücken ausgeht.

Von den Zeitzonen der Erde – sehr unregelmäßig angeordneten Grenzlinien übrigens, worauf ein Text über die Schwierigkeiten des Reisens zwischen mehreren Orten names Kashgar in Pakistan und China, Kirgistan und Usbekistan hinweist – erhebt man sich mit »Atlas eclipticalis« nun gar ins All. Das Projekt »time/zones« entwirft seinen ganz eigenen Weltzusammenhang noch am heutigen Freitag von 16 bis 24 Uhr.

Tom Mustroph