still (LAST/Trilogie 2)

tip, 11/2000

Four Beats per Minute
Hallesches Ufer: Getting stoned mit der Lose Combo

Jörg Laue, der mit seiner Lose Combo regelmäßig Gast am Theater am Halleschen Ufer ist, gehört zu den leisen, sensiblen Künstlern. Ein Einzelgänger im Berliner Großstadtgetöse. Anders als viele seiner Generationsgenossen interessiert es ihn nicht, die Mittel des Theaters auf ein Tempo zu beschleunigen, das der Bildfrequenz eines MTV-Clips entspricht, um so den Wahrnehmungsapparat der Zuschauer mit einem hochtourigen, aufgeheizten Strudel von visuellen und akustischen Reizen an die Grenzen der Aufnahmefähigkeit zu bringen. Ganz im Gegenteil: Laues "Multimediales Musiktheater" ist eine Entschleunigungs-Maschine.
Die Signale, die dieses Musiktheater aussendet, bombardieren die Sinnesorgane nicht, sondern reizen sie mit einer niederfrequenten Spannung an der Grenze zur Stille. Die Materialität der Kommunikation tritt in den Vordergrund, Intensität statt Sensation. Man betritt einen Raum, in dem die konventionellen Regeln des Verstehenwollens und der Interpretation außer Kraft gesetzt sind. "Auf das Wissen zu verzichten wissen", zitiert Jörg Laue den französischen Philosophen der Dekonstruktion Jacques Derrida über Poesie.
Die Poesie hatte, wenn man so will, klanggeschichtlich die Funktion, das uns umgebende Schallchaos auf anschreibbare und damit artikulierbare Töne zu reduzieren. Durch die Entwicklung der elektronischen Medien sind wir darauf geeicht, das Rauschen zwischen den Signalen als Störung zu empfinden, weil immer perfektere Filter nur noch den "reinen Klang" zu Gehör bringen beziehungsweise auf störungsfreie Bildwiedergabe zielen.
Die fast sakralen Bühnenräume der Lose Combo hingegen lösen eine wahrnehmungstechnische Regression aus. Ein Teil der Zuschauer empfindet das bei den Aufführungen regelmäßig als anstrengend: Die Konfrontation mit dem Rauschen des eigenen Innenraumes, das Laues Kompositionen unmittelbar evozieren, ist nicht nur angenehm. Andere sind entspannt genug, um in die Stille abdriften zu können und sich dem verlangsamten Puls hinzugeben.
Jörg Laues neues Stück "still" ist der zweite Teil seiner "LAST/Trilogie". Wie in "falls", das im vergangenen Herbst im Theater am Halleschen Ufer uraufgeführt wurde, geht es wieder um Verwandlungsmotive aus den Metamorphosen des Ovid. Musikalisches Ausgangsmaterial ist die "Kunst der Fuge" von Johann Sebastian Bach, aus deren Grundstruktur Jörg Laue seine Partitur für Text, Musik, Tonband, Video und Licht entwickelt. Diesmal geht es um die "Nacht der Erstarrung Niobes aus der Perspektive des Steins". Wer bei "stoned sein" auch an Drogenerfahrungen und Rauschzustände denkt, liegt durchaus richtig. [...]

Kathrin Tiedemann