MYTHOS EUROPA

Der Tagesspigel, 12.10.1998

Angriff auf die Sinne
"Mythos Europa", das neue Projekt des Theater-Performers Jörg Laue

Der Slogan, daß Theater - wie alle wichtigen Dinge - einzig im (Zuschauer-)Kopf entsteht, ist bekannt. Und richtig. Unwillig allerdings wird der Kopf, wenn er einem Potpourri bemüht sinnentleerter Textversatzstücke lauschen muß, während sich gleichzeitig spastische Zuckungen und multimediale Endlosschleifen vor ihm entfalten. Dergestalt Halbherziges legitimiert sich gern als postmodern. Und er beginnt irgendwie zu ahnen, der Kopf, daß ihm hier kraft der unmotivierten Bedeutungslosigkeit durchaus Bedeutungsvolles versinn(bild)licht werden soll. Daraufhin ist er dann zumeist leer.
Jörg Laue, dessen neues Projekt "Mythos Europa" Donnerstag im Theater am Halleschen Ufer uraufgeführt wird, kann ebenfalls ausdauernd über den Sinn als lediglich "nachträglichen Effekt" debattieren. Auch er erklärt sein "zeitgenössisches Musiktheater" als Versuch, "Verstehensmomente zurückzudrängen, um Erfahrung zu provozieren"; und seine Version des antiken Mythos, demzufolge Zeus in Gestalt eines Stiers die Königstochter Europa entführt, folgt entsprechend keiner herkömmlich linearen Dramaturgie: Laue attackiert in seinen Produktionen mit sanfter Radikalität den Textsinn, indem er Sprache zu reinem Klangmaterial mutieren, "Musik, Licht, Text und Video als autonome Ausdrucksformen" korrespondieren oder eben dissonieren läßt. Man muß sich das in etwa - um auf Laues frühere Performance "KOMMA (Der Winter.)" zu verweisen - wie folgt vorstellen: Zwei in Bleimänteln gefangene Performerinnen rezitieren aus Hölderlins "Antigone"-Übersetzung, während das Auditorium Violinen und elektronischen Klängen vom Band lauscht, deren Partitur in einem komplizierten Transformationsverfahren aus einem handschriftlichen Hölderlin-Manuskript entstand.
Soweit der äußerliche Aktionismus, und der Rest ist ein wundervoll undogmatischer Angriff auf die privaten Sinne. Man mag zu einem Theater, das in derart bedingungsloser Ausschließlichkeit im vielzitierten Kopf stattfindet, stehen wie man will. Fakt allerdings ist, daß der postmodern inspirierte Laue seinen Feldzug gegen Verstehenszwang und Identifikationssucht so konsequent und dabei unverkrampft durch- und zu Ende denkt, daß der Kopf- so er sich einläßt - gar nicht verstehen kann, sondern in Abseitiges driften muß; in einen eigentümlichen Zeitverlust vielleicht oder auch in geistige (Hölderlin-)Untiefen oder tonale Brüche. Leer ist er jedenfalls nicht.
Es gibt Sinnfanatiker, die die theatralen Räume der Lose Combo, in der der Regisseur mit seinem Kollegen Hans-Friedrich Bormann und wechselnden Performern und Musikern zusammenarbeitet, ratlos verlassen. Es gab auch schon welche, die ihr Eintrittsgeld zurückverlangten. Laue, der für das sattsam etablierte Kalkül, sogenannte Zuschauererwartungen zu enttäuschen, schlicht zu reflektiert ist, kommentiert dies so: "Ich will mein Publikum weder vor den Kopf stoßen noch beglücken. Ich will einfach Zeit- und Ruheräume schaffen, die ich selbst genieße."
Deshalb finanziert er seine Projekte in der Regel eigenständig und projiziert Videos auch schon mal "auf Butterbrotpapier". "Das ist", bekennt der Vierunddreißigjährige als verfechtender Wahmehmungs-Entgrenzer, "ja durchaus ganz interessant. Aber eigentlich" - kurze Pause - "möchte ich anders arbeiten." Zu wünschen ist dies auch dem geneigten Zuschauerkopf.

Christine Wahl