FATZER/Monologie

Text von Judith Wilke
(Aus: Dies.:[i]Brechts »Fatzer«-Fragment - Lektüren zum Verhältnis von Dokument und Kommentar[/i], Bielefeld: Aisthesis, 1998, S. 251ff.)

10. Februar 1998, Brechts 100. Geburtstag am Berliner Ensemble, an diesem Tag ein offenes Haus, in dem Brecht gelesen, gehört und vorgetragen wird. Am Abend ist auf der Hauptbühne eine Aufführung der nach über vierzig Jahren wieder freigegebenen Maßnahme zu sehen. Und abseits vom Haupthaus, im Karl-von-Appen-Zimmer schräg gegenüber der Probebühne, gerät der Gast - vielleicht auch zufällig - in eine Brecht-Gedächtnisfeier zwischen Installation und Lesung, Inszenierung und konspirativer Sitzung. Es ist eine zehn Stunden bis Mitternacht dauernde FATZER/Monologie, ein von der Gruppe LOSE COMBO um Jörg Laue, Hans-Friedrich Bormann und Christopher Martin eingerichteter Zeit-Ort, in dem das schwache Licht blauer Neonröhren und grünlicher Glühbirnen sich zu einem diffusen Grau wie auf einer Negativ-Fotografie vermischen und in dem sich die mal spärlichen, mal zahlreicheren Besucher um eine große, aus Spanplatten zusammengesetzte Tischplatte versammeln. Den Besuchern greifbar sind fünfzig kleine Lautsprecher, deren Kabel sich von der Mitte des Tisches ausgehend wie Schlingpflanzen oder Nervenstränge ausbreiten. Aus den Klangquellen an ihrem Ende tönen Textbruchstücke aus dem Fatzer-Fragment, gesprochen von dem Schauspieler Hermann Beyer. Im Medium dieser einen, auf sechs verschiedenen Tonspuren aufgenommenen Stimme und ihrer besonderen, weniger auf den Sinn als auf den Rhythmus der Verse gerichteten Diktion entsteht eine Polyphonie des Textmaterials, in Überlagerungen, Wiederholungen und plötzlichen Abbrüchen, bei einer relativ kleinen Auswahl vor allem von Monologen und Chortexten.

Das Ohr nah an der Membran eines Lautsprechers oder leise aus größerer Entfernung vernimmt man Sätze wie: Aber als alles geschehen war, war da / Unordnung. Und ein Zimmer/ Welches völlig zerstört war, und darinnen / Vier tote Männer und / Ein Name! / Und eine Tür, auf der stand / Unverständliches. Überlagert von anderen Sätzen: Aus vielen runden Mäulern fallen / Große viereckige Worte, woher sind sie? /Mir scheint, ich bin vorläufig / Aber was läuft nach? Oder: Wenn ihr redet, hinter euch /Reden immer andre! Und: Koch, du kannst nicht / Für dich sorgen und willst / Der ganze Welt helfen. Zu vorher festgelegten Zeitpunkten betritt der Schauspieler Hermann Beyer selbst den Raum und setzt sich, eher unauffällig und von vielen zunächst gar nicht bemerkt, an einen Platz am Tisch gegenüber der Tür. Irgendwann beginnt er zu sprechen, die gleichen Sätze aus Fatzer, so daß sich seine bis dahin von der Person abgelöste, technisch vervielfältigte Stimme plötzlich auf diesen einen Sprecher zurückbeziehen läßt. Dieser Sprecher aber tritt in dem schwach beleuchteten Klangraum nur als Umriß und Schatten in Erscheinung, fast völlig reduziert auf eine Stimme, die vermittelt über Brechts Texte und die technische Apparatur mit ihren abgespaltenen Reproduktionen kollidiert.

Ebenso unauffällig wie er gekommen war, verläßt Hermann Beyer nach 20 bis 25 Minuten wieder den Raum und die um den Tisch versammelten Zuschauer. Als Anwesende und Zeugen, die vor allem sich gegenseitig beim Hören beobachten und sich auch leise unterhalten, spielen sie in dieser Situation eine beinahe gleichwertige Rolle wie der eigentliche Schauspieler, dessen Funktion auf ein Minimum reduziert ist. So geht die FATZER/Monologie weiter wie sie begonnen hatte, während der Schauspieler längst gegangen ist. Vielleicht erst im Nachhinein konnte den Zuschauern oder besser: Teilnehmern dieser Veranstaltung klar werden, daß es auch darum ging, die Grenzen und Ränder dessen, was Theater ist, auszuloten und zu verschieben. Premiere hatte die szenische Installation im "Brechtsommer 1997", als fast alle Bühnen und Räume des Berliner Ensembles zum Testgelände vor allem für ein Dutzend Uraufführungen von Brechtfragmenten wurden, die allgemeine Aufmerksamkeit sich aber vor allem auf Leander Haußmanns und Christoph Schlingensiefs spektakuläre (und heftig verrissene) Brecht-Austreibungen richtete. Die FATZER/Monologie war darum bemerkenswert, weil sie die Entgrenzung des Theaters auf andere Kunstformen, auf Happening, Neue Musik und Performance mit einer Textlektüre verknüpft hat, die auch das Publikum in das Geschehen miteinbezog und sich selbst vorführte. Damit erinnerte sie an die dem Fragment eingeschriebene Utopie von "Theater" als einem Ort kollektiver Erfahrung.