Dort. Medeamorphosen I (Glengreen)

Süddeutsche Zeitung, 8.7.1994

Gefrorene Zeit
Medeamorphosen

Die Irritation war programmiert. Denn keine konventionell dramatische Produktion war es, die der Robert-Wilson-Adept Jörg Laue (mit Anja Bayer und Hans Friedrich Bormann) in den schwarzen Bühnenraum des Neuen Theaters gesetzt hatte, sondern eine mit allen Wahmehmungsgepflogenheiten brechende "szenische Skulptur". Eine Collage, an der gewohnte Denkmuster scheitern, die theatralische Erwartungen unerfüllt läßt. "Dort. Medeamorphosen I (Glengreen)", nennt Laue seine Rätselwelt.
Das Foyer wird zum Klangraum, der das normale Zeitempfinden mit dem sanften Schock der Langsamkeit außer Kraft setzt: Man hört eine Fuge von Bach, für Streichquintett gesetzt, in dreißigfacher Verlangsamung - und aus ihrem zielstrebig-folgerichtigen Duktus wird Statik, Fläche, Meditation. Dann der szenische Raum: ein Triptychon schwarzgrüner Stoffflächen, die den optischen Rahmen für eine inhaltliche Text-Musik-Text-Trias bilden. Am Boden knirschender Kies, auf den es herabtropft von wuchtigen Eiskegeln, die Spitze nach unten, lotrecht wie Damoklesschwerter über der Bühne hängen. Erstarrte Pendel, Pendant zur gefrorenen Zeit, die sich nur sehr allmählich aufzulösen vermag in der retardierten Musik?
Bedrohung geht aus von diesen gefrorenen Loten: Denn zwei Performer müssen sich der Folter der eisigen Tropfen aussetzen, wenn sie ihre Texte sprechen. Die Frau (Dominique Yachmi) verwandelt eine Wortkomposition frei nach dem Medea-Mythos in ein elegisches Klageraunen, mehr geflüsterte Wortmusik denn rationale Botschaft. Chiffren der Erniedrigung verdichten sich zum Leitmotiv: "ein Stück Frau" - das Wegwerfobjekt erkalteter Begierden. Noch radikaler verselbständigt sich der Text des Mannes (Nicola Duric): Es ist der Hydra-Text "Herakles 2" von Heiner Müller, dessen Sprache schließlich selbst zur Hydra wird; zertrümmert in Wiederholungsschleifen, verdichtet durch akustische Multiplikationen, verschlingt sie den Sprecher schier ausweglos.
Gibt es da noch künstlerische Ordnung? Mit einer gewissen Fraglichkeit allenfalls. Zwar tritt im Mittelteil eine Geigerin (Christine Krapp) mit Bachs d-Moll-Chanconne vor die Stoffwände - doch auf ihren nackten Körper wird ein Video projiziert, das sie halb mit Licht enthüllt, halb mit Schatten verdeckt: Glenn Goulds Hände in Zeitlupe, die unhörbar eben jene Bach-Fuge spielen, die aus dem Vorraum von den Streichern in gedämpfter Entferntheit ertönt. Drei Klangebenen, die eine nur imaginativ, drei Zeitebenen zugleich. Nach einem kohärenten Sinn fragt man nicht mehr: Diese "szenische Skulptur" will keine logische Geschichte erzählen - sie wirft einen hinein in das Abenteuer der Wahrnehmung.

Klaus Bennert